Balance von Lernzeit und Freizeit in der Grundschule – auch in Krisenzeiten machbar?
Unter der Fragestellung, ob die Balance von Lernzeit und Freizeit auch in Krisenzeiten machbar ist, betrachten wir, der Ganztagsschulverband e.V. Landesverband Sachsen, die aktuellen Allgemeinverfügungen und Erlasse des Sächsischen Ministeriums für Kultus, deren Auswirkung auf die Notbetreuung und auf die Beteiligten an Bildung in Ganztagsgrundschulen in Sachsen.
Aus der Perspektive des Lehrkräfte- und Erzieher*innenteams / Leitungsteams
Mit der Schließung der Schulen am 16. März 2020 kam es im Freistaat zu folgender Situation: Die Lehrkräfte und Kinder blieben zu Hause und die Erzieher*innen waren zumeist in voller Besetzung im Dienst im Hort. Beinahe flächendeckend etablierte sich die Notbetreuung in enger Zusammenarbeit und Absprache zwischen Schulleitung und Hortleitung. Eine Balance der Notbetreuung zwischen Lernzeit in Verantwortung der Schule und Freizeit in Verantwortung des Hortes wurde schnell gefunden, da beide Institutionen sich in vielen Grundschulen seit Jahren auf den Weg eines Miteinanders machen. Der Blick ist vielerorts nicht mehr auf das erwachsene Gegenüber/ die andere Institution gerichtet, sondern der Blickwechsel auf die Kinder ist vollzogen, ob aus der Perspektive der Erzieher*innen oder der Lehrkräfte. Und sehr viele Einrichtungen sind sehr stolz darauf, endlich diesen Perspektivwechsel vollzogen zu haben, um gemeinsam die Ganztagsgrundschule mit allen Beteiligten zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund verlief die Planung und Umsetzung der Notbetreuung meist reibungslos zwischen beiden Institutionen.
Die notzubetreuenden Kinder, deren Eltern sog. systemrelevanten Berufen nachgingen, wurden in Kleingruppen unter professioneller Anleitung in der Lernzeit von den Erzieher*innen betreut. Bewusst wurden in der Notbetreuung die Gruppen konstant gehalten und jeweils eine weitere Lehrkraft zugeteilt, die in der jeweiligen Jahrgangsstufe die schulischen Inhalte erklären konnte. Die Eltern forderten von der Notbetreuung zugleich, dass die Lernaufgaben vollständig und inhaltlich richtig erledigt wurden.
Eigenverantwortlich planten beide Institutionen, also Hort und Schule, bereits die Wiederaufnahme des Unterrichts der Klasse 4 in enger Kooperation. Alle Beteiligten ignorierten damit meist absichtlich die Vorgabe der Dienstanweisung vom 30. April 2020, dass die Notbetreuung von Klasse 1-3 vom Hort und der Unterricht und die Betreuung von Klasse 4 von den Lehrkräften zu übernehmen sei. Diese Vorgabe war zu diesem Zeitpunkt widersinnig, denn die Weiterentwicklung des Betreuungskonzeptes und der Hygienekonzepte waren bereits von den Schul- und Hortleitungsteams gemeinsam gestaltet worden. Die Personaleinsatzpläne standen. Die Kollegien waren informiert. Alle freuten sich miteinander auf den Start der 4. Klassen.
Mit der Allgemeinverfügung vom 1. Mai 2020 zur Wiederaufnahme des Unterrichts der Klasse 4 wurde es ernst. Nun riefen die Hortleitungen ihre Träger an, die vehement die Allgemeinverfügung und damit eine grundsätzliche Trennung von Grundschule und Hort verteidigten, obwohl in Sachsen das Kombimodell aus Grundschule und Hort gemeinsam die Ganztagsgrundschule bildet. Die Halbtagsgrundschule als Bildungseinrichtung und der Hort als Betreuungseinrichtung sollte nun wieder die Regel werden.
In der Folge mussten nun Schule und Hort, obwohl meist im gleichen Haus untergebracht, ihre eigenen Konzepte zur Hygiene und zum Unterricht und zur Betreuung bzw. zur Notbetreuung entwickeln. Kooperation in multiprofessionellen Teams im Lern- und Lebensraum Schule war per Dienstanweisung und Allgemeinverfügung verabschiedet.
Was hieß dies nun für die Schulpraxis? Überspitzt ergab sich folgendes Bild: Die Erzieherinnen saßen morgens in der Lernzeit, die Lernaufgaben wurden wie Hausaufgaben behandelt und es wurde von Erzieherinnenseite für eine ruhige Atmosphäre gesorgt, damit die Kinder arbeiten konnten. Die Jungs aus der 1. Klasse saßen orientierungslos da. Zuvor betreute die Lehrkraft die Lernzeit, die auch die Aufgaben gestellt hatte. Somit bekam sie in der Notbetreuung gleich ein Feedback, wie ihre gestellten Lernaufgaben gelöst wurden. Sie wusste, wo sich das didaktische Material in der Schule befindet, welches dem lernschwachen Kind beim Rechnen und Lesen hilft. Erzieher*innen benötigen dieses Wissen in der Regel im Rahmen ihrer professionellen Tätigkeit nicht und die Förderung lernschwacher Kinder ist auch nicht Teil ihrer Ausbildung. Vielerorts bekamen also die Kinder, die fachliche Hilfe besonders benötigen, eben diese Hilfe nicht im notwendigen Maß.
Wechseln wir in den Nachmittag. Hier spielen die Erzieher*innen (natürlich mit Abstand) mit den Notbetreuungskindern auf dem Hof und helfen Kindern bei der Ausbildung jener Kompetenzen, die in den letzten Wochen zu kurz gekommen sind. Das ist der Kernkompetenzbereich der Erzieherinnen. Die Lehrkräfte sitzen bei den Kindern der 4. Klasse, die eigentlich nachmittags Hortzeit hätten.
Ab 15:00 Uhr sind bestenfalls noch 2 Kinder da. Mit einem Kind sitzt die Betreuungslehrerin im Klassenzimmer und ein Erzieher spielt mit dem anderen Kind auf dem Hof Tischtennis. Zwei Fachkräfte betreuen zwei Kinder!
Mit dem Schulleiterbrief vom 8. Mai 2020 zur Wiederaufnahme des Unterrichts für alle Schülerinnen und Schüler der Grundschulen und Förderschulen wurde die fehlende Balance zwischen Hort und Schule wieder hergestellt. Ab 18. Mai 2020 wird die Schulbesuchspflicht für die Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 1-4 wieder gelten. Damit führen die Schul- und Hortleitungen ihre Hygienekonzepte wieder zusammen. Allerdings: Der Unterricht und die Hortbetreuung erfolgen schlagartig wieder in Gruppen von bis zu 22 Kindern im Klassenzimmer, hinzu kommen die Lehrer*innen und Erzieher*innen der Klasse. Die Hygienevorschriften, wie Abstand halten, sind somit nicht mehr umsetzbar und die Balance von Schüler*innenanzahl und Hygienevorschriften ist gestört. Zwei einfache Beispiele hierfür:
- Die Kinder sollen, wenn sie die Schule betreten, die Hände gründlich waschen. Folglich stehen 22 Kinder am Waschbecken auf den Toiletten bzw. im Klassenzimmer an. Ein Mindestabstand von 1,5 Metern kann so faktisch aufgrund der baulichen Gegebenheiten nirgends gewährleistet werden.
- Die Kinder sollen sich nur im Klassenverband aufhalten. Das Mittagessen von beispielsweise 20 Klassen in der Mensa mit einer Speisenausgabe und einer Geschirrrückgabe würde sich immens in die Länge ziehen, da eine Klasse ca. 20 min zum Essen benötigt.
Die Unterbrechung von Infektionsketten ist ein richtiges und wichtiges Ziel. Das unterstützen wir voll und ganz, allerdings zum einen nicht durch die Separierung von Grundschule und Hort. Hier wird getrennt, was in den letzten Jahren zusammengewachsen ist, oftmals mit offenen Wunden.
Zum anderen ist dieses Ziel auch nicht durch realitätsferne Vorgaben zu erreichen. Wir appellieren daher an die Entscheidungsträger*innen, im schulischen Bereich die Eigenverantwortlichkeit von Schule und Hort zu stärken! Die Menschen vor Ort können ihre Gegebenheiten am besten einschätzen und die Balance zwischen den Beteiligten vor Ort, den räumlichen Bedingungen und den notwendigen hygienischen Vorgaben herstellen.
Ein Blick auf die GTA-Schaffenden
Mit der Umsetzung der Kontaktbeschränkungen wurden alle Ganztagsangebote (GTA) in Sachsen auf Eis gelegt. Am 20. März 2020 erging ein Schreiben an alle Schulleitungen, dass bis Ostern die GTA-Anbieter*innen weiterbezahlt werden, dann aber eine neue Anweisung erfolgt. Diese Nachricht nahmen alle Beteiligten sehr positiv und dankbar auf, denn die Verwaltungsarbeiten wurden für die GTA-Koordinator*innen stark minimiert und die GTA-Schaffenden hatten ihre finanzielle Sicherheit.
Es folgte die Anweisung vom 30. April 2020 mit rückwirkendem Vollzug zum 20. April 2020. Die GTA-Anbieter*innen sollten nun laut Anweisung bei der Absicherung der Betreuung der 4. Klassen unterstützen, wenn eine Schule nicht genügend Lehrkräfte zur Verfügung hat. Da es ab dem 20. April keine Fortzahlung der Honorare für GTA-Kräfte mehr gab und viele Schulen für die Nachmittagsbetreuung durch die Lehrkräfte personell eher schlecht aufgestellt sind, schien dies ein pragmatischer Ansatz zu sein, von dem GTA-Kräfte und Schule/Hort profitieren konnten. Laut den FAQ vom 8. Mai 2020 zur Wiederaufnahme des Unterrichts für alle Schülerinnen und Schüler der Grundschulen und Förderschulen sollen jedoch GTA-Kräfte nicht mehr nur im Nachmittag als Unterstützung eingesetzt werden, sondern auch im Vormittagsbereich für individuelle Förderangebote und die Aufsicht/Betreuung der Klassen. Was gut gemeint ist und auf den ersten Blick wie eine Chance zur zusätzlichen Absicherung der Aufsicht erscheint, ergibt ein völliges Durcheinander in der Personalplanung der Schule und des Hortes und der zeitlichen Planung für die GTA-Kräfte. Während die Schulen also kurzerhand GTA-Kräfte als Unterstützung für den Nachmittag akquiriert hatten, machte diese Anweisung innerhalb von knapp einer Woche die ganze Einsatzplanung wieder zunichte.
Uns bewegen daher zum Bereich GTA noch viele offene Fragen:
- Wie und wann soll GTA nun stattfinden?
- Was passiert mit den Fördergeldern, die nicht ausgegeben werden und zurück an die SAB überwiesen werden?
- Wie verhält es sich mit Risikogruppen im GTA-Bereich?
- Was ist mit den Menschen, die nicht gleich am 20. April 2020 wieder an unseren Schulen arbeiten, weil sie sich zwischenzeitlich andere Projekte gesucht haben und natürlich auch das distance learning ihrer eigenen Kinder betreuen?
- Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, um zum Schuljahresstart 2020/21 wieder in einen Regelbetrieb bzgl. GTA zu kommen? Welche Alternativvarianten sind ggf. auch über längere Zeiträume (mehrere Monate) denkbar?
- Welche finanziellen Kompensationen gibt es für Vereine und Angebotsleiter*innen, die nicht im Haupterwerb im GTA-Bereich arbeiten, aber dennoch von diesen Einkünften leben?
Fazit
Es ist unbestritten, dass wir uns in einer Zeit der Krise befinden. Der Gesundheitsschutz steht über allem und wir sind uns der unbedingten Ernsthaftigkeit dieses Anliegens vollkommen bewusst. Die Hygienevorschriften setzen die meisten Beteiligten an den Grundschulen sehr erfolgreich um. Unter diesen Bedingungen, mit kleinen Gruppen und unter Einhaltung der Abstandsregeln wollen die Lehrer*innen gern wieder in der Schule arbeiten. Auch die GTA-Schaffenden suchen die Arbeit mit den Kindern. Wir sind deswegen davon überzeugt, dass die entsprechenden Hygienevorschriften auch im GTA-Bereich umsetzbar sind. Ganztagsangebote finden oft in viel kleineren Gruppen als der Regelunterricht statt. Und in Ergänzung zum Regelunterricht und zum Hort haben Ganztagsangebote eine wichtige kompensatorische Wirkung bei der Entkopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft. Aus jugend- und sozialpolitischer Perspektive fördern sie damit eben jene Kompetenzen, die Kindern und Jugendlichen in kritischer Lage besonders in Zeiten der Krise nicht von den Elternhäusern vermittelt werden.
Für unsere multiprofessionellen Teams an den Schulen wünschen wir uns daher einheitliche Anweisungen von unseren Vorgesetzten und Möglichkeiten der Selbstorganisation, um diese Krise optimal für alle Beteiligten zu bewältigen. Die fehlende Kontinuität in den Anweisungen der Allgemeinverfügungen und Schulleiterschreiben bremsen den gesundheitsbewussten Gestaltungssinn und die Kreativität im aktuellen schulischen Rahmen aus.
Termine
Zugang zum Mitgliederbereich
Jetzt Mitglied im Ganztagsschulverband e.V. werden
und von Vorteilen profitieren …
- Exklusiver Mitgliederbereich
- Unterstützung und Austausch
- Kongresse auf Bundesebene
- Fachtage auf Landesebene
- Zeitschrift DIE GANZTAGSSCHULE